Shenzhen ist eine dieser Städte, die man eigentlich kennen müsste: Über 12 Millionen Einwohner*innen, High-Tech-Zentrum, Produktionsort von 90% der weltweiten Elektronik und Hoffnungsstadt. Ein Bericht über mein Praktikum in „Chinas Silicon Valley of Hardware“.
Ein letztes Mal schmunzeln über Deutschland musste ich am Münchner Flughafen. Ein paar Tage zuvor habe ich meine Möbel verkauft, bin ausgezogen und habe die letzten Kartons in meinem alten Kinderzimmer verstaut. Da saß ich nun am Gate, mit Blick auf einen abgetrennten Bereich, wo den Mitarbeitern eines Automobilherstellers noch gemütlich ein Frühstück serviert wurde. Für die Herren ging es nach Helsinki – für mich weiter nach Hong Kong.
Blick auf den Bezirk Futian, unweit des politischen Zentrums der Stadt. © Paul Roeder
Die Sonderverwaltungszone wurde 1997 von Großbritannien an China übergeben und liegt im Süden des Perl-Fluss-Deltas, einer gigantischen Metropole der Provinz Guangdong. Zu ihr gehören auch Millionenstädte wie Macau, Zhuhai, Guangzhou, Foshan, Dongguan und – Shenzhen. Ich persönlich finde Hong Kong ganz nett, aber längst nicht so interessant wie den schier endlos wachsenden Nachbarn im Norden der ehemaligen Kolonie. In den 80er Jahren rief Präsident Deng Xiaoping die Sonderwirtschaftszone Shenzhen aus, um mit dem Kapitalismus zu experimentieren, ohne einen etwaigen Gesichtsverlust Beijings oder Shanghais zu riskieren.
In den letzten 40 Jahren wurde aus dem Fischerdorf eine Stadt von weltweiter Relevanz. Die 12,5 Millionen Bewohner*innen stammen aus ganz China und strömten in der Hoffnung auf eine erfolgreiche Zukunft in die boomende Küstenregion. Aus Shenzhen kommt heute ca. 90% unserer weltweiten Elektronik und auch Apple lässt in den dortigen Foxconn-Werken iPhones, MacBooks und Co. zusammenbauen. Neben den modernen Fabriken steht die Stadt auch sonst für Technologie: Hauptsitze von Firmen wie Huawei, DJI (Dronen), Anker, ZTE und Tencent (chinesischer Internet-Gigant, WeChat) verantworten den semi-offiziellen Titel „Silicon of Valley of Hardware“.
Der neue Hauptsitz von Tencent im Bezirk Nanshan. © Paul Roeder
Zum ersten Mal in Shenzhen war ich im Oktober 2017. Mein erster Eindruck war befremdlich. Mein Weg zu einem Besuch eines Herstellers für smarte Glühbirnen führte durch festinstallierte Absperrungen, die die Unmengen an Menschen wie Vieh durch die ohnehin riesigen U‑Bahnhöfe trieben. Später war ich auf dem Weg zu einem Design-Meetup im „High-Tech-Park“ – eine der vielen Ansiedlungen inflationärer Wolkenkratzer. Als ich nach der Reise durch Festlandchina in Hong Kong ankam, ahnte ich nicht, dass ich schon bald an diesen Ort zurückkehren würde.
Die linke Hälfte einer Gebäudeallee. © Paul Roeder
Ein Praktikum in China finden
Mein erstes Fachpraktikum wollte ich unbedingt in China absolvieren. Mir ging es nicht nur darum, meine gestalterischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, sondern ich wollte vor allem die Rolle des Designs in China verstehen. Was ist wirklich dran an der besagten Chinese Innovation? Oder doch nur Copy Cat? Der in Hong Kong ansässige Startup-Investor Bay McLaughlin sagt: „China is not copying our shit anymore“.
Um das zu überprüfen wollte ich einen Platz im Herzen des Hypes finden. Ein paar Jahre zuvor sah ich einen Vortrag von David Li in Berlin. David ist Co-Founder des ersten Fab Lab Makerspaces in Shenzhen, dem Open Innovation Lab (SZOIL). Über einen Kontakt aus Facebook schrieb ich eine E‑Mail und bekundete mein Interesse an einem Praktikum. Die Antwort kam schnell: „Ok“. Das war einfach.
Das Shenzhen Open Innovation Lab im Sino-Finnischen Design Park. © Paul Roeder
An meinem ersten Arbeitstag, pünktlich Deutsch, stand ich im Sino-Finnischen-Designpark bereit, um meine formelle Empfangszeremonie zu erwarten. Leider gab es keine formelle Empfangszeremonie. Ich war einfach nur da, und die waren auch da. Nachdem wir etwas warm wurden, haben mir meine Kollegen, die übrigens super Englisch sprechen, geholfen, eine Wohnung zu finden. Dafür hatte ich schon eine App herausgesucht.
In China gibt es für alles eine App, und alle benutzen auch für alles eine App. Mit Ziroom kann man sich möblierte WG-Zimmer mieten. Alles mobil: Besichtigungstermin, Mietvertrag, Mietzahlung, Einstellen des Tür-Codes, Service. So fand ich ein Zimmer mit Balkon und Blick auf das viertgrößte Gebäude der Welt. Ganz allein musste ich mich um ein chinesisches Bankkonto kümmern. Das ist essentiell um die Dienste von Alibaba (Alipay) und Tencent (WeChat Pay) zu nutzen. Gezahlt wird in China nahezu ALLES mit dem Handy. Jeder Laden oder Straßenhändler stellt einen QR-Code bereit, über den man den gewünschten Betrag sofort übermitteln kann.
Blick von meinem Innenhof auf den neuen Ping An Tower. © Paul Roeder
Mein erstes Projekt kam von David. Da ich mich zuvor schon etwas mit künstlicher Intelligenz aus gestalterischer Perspektive beschäftigt hatte, habe ich im ersten der drei Monate einen öffentlichen Workshop entwickelt, der später im Büro veranstaltet wurde. Ich habe mich zunächst mit Hardware beschäftigt, etwa Geräte mit denen sich eigene Sprach-Interfaces wie Alexa entwickeln lassen. Nachdem ich das nicht richtig in einen knackigen Workshop verpacken konnte, fokussierte ich mich auf den reinen Designprozess.
Der sprechende Alexa-Fisch ist immer wieder ein gutes Beispiel. © SZOIL
An meinem großen Nachmittag haben die Besucher des Labs zunächst User Interviews geführt, um Ansatzpunkte in ihrem Alltag aufzuspüren. Daraus wurden mit verschiedenen Methoden schnelle Prototypen für sprachbasierte Assistent*innen entwickelt. Ziel war es, nutzer*innenzentrierte Herangehensweisen zu entwickeln, die sich in Hardware-Projekten einsetzen lassen. Shenzhen ist nämlich auch bekannt für seine große Maker-Szene, also das eigene Entwickeln von Dingen, an denen sonst nur Ingenieur*innen arbeiten.
In Shenzhen leben
In der Zwischenzeit hatte ich mich schon ganz gut eingelebt. Mein täglicher Arbeitsweg führte durch den vertikalen Stadtbezirk Futian, den man schwer mit irgendeiner anderen Stadt vergleichen kann. Die riesigen verglasten Hochhäuser stehen in einem größeren Abstand zueinander als man es beispielsweise von New York erwarten würde. Dafür sind die Straßen sehr großzügig angelegt und werden links und rechts von großen Bäumen beschattet. Und das ist auch gut so, denn obwohl es im März nachts ziemlich kühl wurde und ich mir für drei Euro eine zusätzliche Decke kaufen musste, kam ich durchaus noch ins schwitzen. In Südchina ist es nicht nur heiß, sondern es regnet auch schön warm.
Die Stadt wächst rasant: überall werden neue Hochhäuser gebaut. © Paul Roeder
Unterwegs ist man entweder in einer der vielen U‑Bahn-Linien, die jedes Jahr um 150 km (!) ausgebaut werden, oder mit einem Bus der 100%-igen Elektroflotte. Gezahlt wird per Handy oder der „Shenzhen-Tong“ ‒ einer NFC-Karte wie man sie auch von anderen Großstädten kennt. Jede Bahnstation ist mindestens fünfmal so groß wie in Berlin, verfügt über öffentliche Toiletten und jede Menge Personal. Vor der Fahrt wird eine Sicherheitskontrolle durchgeführt. Die ist aber weniger streng als am Flughafen und zielt vor allem auf potenziell explosive Getränke ab. Um weniger verdächtig zu erscheinen, gewöhnt man sich daher schnell an, demonstrativ an seinem Starbucks-Iced-Latte nuckelnd vorbeizuhuschen. Die Kontrolleur*innen sind aber wie die meisten Chines*innen recht nett und flaxen auch gerne mal herum.
Ich erlebte auch einige Feiertage! Wenn diese nicht gerade an einem Sonntag nachgeholt werden mussten, erkundete ich in meiner Freizeit gerne die Stadt. Mit der spottbilligen Bike-Sharing-Flatrate von Mobike (die orangen Räder gibt es auch in Berlin) kann man sich in Shenzhen wunderbar im Nahbereich fortbewegen. So entdeckte ich täglich neue Highlights oder radelte inmitten zukünftiger Stadtteile durch McDonalds-Restaurants im Rohbau.
Nicht um die Ecke aber noch im Stadtgebiet: wunderbare Strände. © Paul Roeder
Die Luftqualität in Shenzhen ist sehr gut. Aufgrund der Lage am Meer, der sauberen Industrie und Fahrzeuge kann man unbeschwert atmen. Schön war es zum Beispiel entlang der langen Bay-Promenade oder an einem der tollen Sandstrände an der äußersten Stadtgrenze. Einmal habe ich einen Trip ins wunderschöne Taiwan gemacht; die Insel ist nur anderthalb Stunden mit dem Flugzeug entfernt, lässt sich visumfrei bereisen und bietet einen angenehmen Kontrast zum „großen“ China.
Nachts wurde es in Shenzhen auch nicht langweilig. Abseits der riesigen matrix-artigen Mainstream-Tempel habe ich den stylischen Underground-Club OIL entdeckt, den ich sehr empfehlen kann. Dort spielen viele internationale oder gar Berliner Künstler*innen auf Asien-Tour. Wenn man mit Chines*innen unterwegs ist, verbringt man die Abende auch gerne vor einem Restaurant, was sich irgendwann wie in einer Bar anfühlt. Nach dem Motto „Bring your own drink“ wechselt man sich mit dem Späti-Gang ab. Trinkgeld ist in China übrigens nicht üblich.
Nein, der Fleischer und die Boutique gehören nicht zusammen. © Paul Roeder
Um es vorweg zu nehmen: China is(s)t bequem. Und da ich mich natürlich kulturell öffnen wollte, wurde ich auch ein bisschen bequem. Essen und Kaffee kann man sich zu FHP-Mensapreisen mit dem Handy liefern lassen, was ich eine Weile intensiv betrieb. Westliches Essen gibt es auch, schmeckt aber nicht so gut wie bei uns und ist verhältnismäßig teuer. Auch praktisch sind die Kantinen, die an vielen Orten günstige und frische Speisen anbieten. Dort muss man nur auf die gewünschten Speisen zeigen und bekommt genau, was und wieviel man will. Ich würde dennoch vor einer Reise nach China empfehlen, zumindest die Zahlen und einige einfache Begriffe einzuüben, denn das vereinfacht die Kommunikation enorm.
Auch China ist nur ein Land
China ist in vielerlei Hinsicht ein schräges Land, aber der Alltag ist überraschend normal. Auch das politische System ist für die*den durchschnittliche*n Praktikant*in eher interessant als gefährlich. Wer dystopischen Kommunismus alla Nordkorea erwartet wird vermutlich enttäuscht werden. Gesellschaftliche Unterschiede merkt man aber an anderen Dingen. So kann es vorkommen, dass man von seinem Gegenüber aus Scham über mangelnde Englischkenntnisse einfach ignoriert wird. Oder manchmal flüstern sich Kinder im Fahrstuhl „Laowei“ zu, was soviel bedeutet wie „ewig Fremder“. Blickt man in die isolierte Vergangenheit Chinas, lässt sich allerdings nachvollziehen, warum dieses Sensationsempfinden immer noch tief in der Bevölkerung verankert ist.
Aus städtebaulicher Sicht ist Shenzhen bekannt für seine sogenannten „Urban Villages“. Das sind etwas „ältere“ Stadtviertel, die sich meist zwischen modernen Komplexen verstecken. Dort geht es so ab, wie man sich China vorstellt. Menschen, die kreuz und quer durch enge Gassen heizen, kleine „Jiaozi“-Dumpling-Läden (sehr lecker) oder Fleischhändler*innen, die ihre Ware veganerunfreundlich präsentieren. In diesen Gegenden habe ich immer gerne Zeit verbracht, weil sie wilder und menschlicher sind als die sterileren Zukunftsgebiete nebenan.
Das ebenfalls neue Zentrum für Design und Architektur. © Paul Roeder
Shenzhen ist jung. Das Durchschnittsalter von etwa 32 Jahren trägt wesentlich zum besonderen Charakter der Stadt bei. Die Chines*innen, die ich kennengelernt habe, überraschten mich mit ihrem intrinsischen Ehrgeiz, die eigene Zukunft zu gestalten. Um in ihrem Beruf aufsteigen zu können, lernte meine Mitbewohnerin beispielsweise täglich nach der Arbeit Englisch. Andere gründen eine Firma oder möchten im Ausland studieren. Übrigens: chinesische Studierende sind genauso faul wie wir. Der berüchtigte Leistungsdruck fällt mit der Hochschulzulassung rapide ab.
In China gibt es die „Great Firewall“. Deshalb kann man nicht einfach so auf westliche Dienste wie Facebook, YouTube, Twitter und Co. zugreifen. Im Alltag benötigt man zwar ohnehin nur die chinesischen Apps wie WeChat oder Baidu Maps, dennoch lässt sich die Blockade mit etwas technischer Vorausplanung in der Regel umgehen. Meine Internetsucht wurde ich dort auf jeden Fall nicht los.
Ich war nicht der einzige Deutsche, auch Angela gab sich die Ehre. © Paul Roeder
Eine neue Perspektive
In der zweiten Hälfte meines Praktikums warteten andere Aufgaben auf mich. Nachdem meine Kolleg*innen herausgefunden hatten, dass ich als Designer auch Powerpoint-Präsentationen machen kann, wurden sie wie besessen davon. Ich konnte aber dennoch einiges mitnehmen. Da ich mich so intensiv mit den Inhalten auseinandersetzen musste, bekam ich einen guten Einblick in die vielseitigen Projekte und Visionen von SZOIL und konnte so ganz nebenbei mein Weltbild schärfen.
Ein großes Thema ist Afrika, insbesondere wie sich dort neue Strukturen entwickeln lassen, durch die sich Menschen selbst aus der Armut helfen können. Dabei soll das Erfolgsmodell von Shenzhen nach Kenia und Ghana exportiert werden. Starthilfe gab auch eine große Designförderung aus Hong Kong, für deren Antrag ich ebenfalls zuständig war. Für mich als Designer hat sich dadurch die spannende Perspektive geöffnet, in Zukunft für und mit Entwicklungsländern zu gestalten.
Anblicke wie diese findet man überall in Shenzhen. © Paul Roeder
Fazit
Kann ich China als Praktikumsort empfehlen? Ja. Allein die dortige Entwicklung mit eigenem Auge zu sehen, mitzuerleben und zu verstehen halte ich essentiell für jede*n, der oder die sich für die Zukunft interessiert. Auch wenn das Modell Shenzhen und China nicht der deutschen Realität entspricht, ist es die Realität eines großen Teils der Menschheit. Abgesehen davon gibt es unzählige spannende Startups, die auch international operieren (z.B. OnePlus) und händeringend nach guten Leuten suchen. Wie in jedem fremden Land sollte man sich vor einer Erfahrung in China genau überlegen mit welcher Mission man fortgeht, denn das hilft ungemein als Anker, wenn es mal nicht so glatt läuft.
Mein Schuhe sind an das Wetter angepasst. Starker Regen. © Paul Roeder
Habe ich die besagte Innovation gefunden? Ja und nein. Viele Dinge werden gerne mal größer gemacht als sie eigentlich sind und auch in China ist nicht alles Gold was glänzt. Aber einen entscheidenden Punkt habe ich in seiner vollen Dimension erlebt: China ist schnell. Sei es Politik, Infrastruktur, Firmengründung, die Nutzung digitaler Produkte – der Fortschritt, das „Neue“ ist was zählt. Auch wenn das fundamental unserem bedachten, gar entspannten, westlich-deutschen System widerspricht, entsteht dort ein gigantisches Experimentierlabor für die Welt von morgen.
Noch Fragen?
Wenn ihr nach China reisen möchtet, könnt ihr mir gerne schreiben. Ich teile sehr gerne weitere Erfahrungen und alles was es sonst noch zu beachten gibt. Habt ihr schon von Shenzhen gehört? Ich freue mich auf eure Kommentare!
Spannend!
War die Sprache keine große Barriere für dich? Konnten auch sonst die meisten Menschen Englisch sprechen?
Danke! Wenn es darauf ankommt lässt sich meistens jemand finden, der oder die English spricht. Ansonsten können die meisten jungen Menschen etwas oder sehr gut Englisch. Manchmal, vor allem in Geschäften, werden die Kinder vorgeschickt um die Situation zu klären. Insgesamt aber auch dank technischer Hilfsmittel kein größeres Problem als in anderen Ländern.
Toller Beitrag! Interessant wäre auch zu erfahren, wie Arbeitsprozesse ablaufen, wie Workflow, Einarbeitung und Designforschung betrieben wird
Danke für den Bericht – sehr aufschlussreich!
Mega interessant! Wie genau lief die Finanzierung? Greift da sowas wie Erasmus oder musstest du dir vor Ort alles selbst bezahlen?