Als ich vor knapp drei Jahren meine Zusage zum Studiengang Kulturarbeit an der FH Potsdam bekam, stand für mich sofort fest: Ich werde die Möglichkeit nutzen, über Erasmus (das Förderprogramm der EU) ins Ausland zu gehen. Ich liebe reisen, ich liebe entdecken und ich liebe es, Erfahrungen zu sammeln. Mir ist damals direkt die JAMU (Janáček-Academy für Musik und Darstellende Kunst) in Brno, östlich in Tschechien, ins Auge gefallen.
Dabei ging es mir hauptsächlich um das Erasmus-Programm. Weder Tschechien noch deren Sprache gehörten zu den größeren Motivationen, aber sie sind eben ein Teil dessen. Auf der Karte war erkennbar, dass Österreich, die Slowakei und ihre Hauptstädte um die Ecke von Brno waren. Ich bin in meinem bisherigen Leben schon viel gereist, aber dennoch waren diese Länder und der südöstliche Teil Europas noch nicht dabei.
Nun neigt sich mein Auslandssemester langsam dem Ende zu und ich habe meine freien Wochenenden zum Reisen genutzt. Dadurch war ich in Wien, Bratislava, Budapest, Pula (Kroatien) und Prag. Als ich nach Pula reiste, gab es auf Hin- und Rückfahrt Passkontrollen. Ehrlich gesagt habe ich nicht mal einen Pass, weil ich ihn bisher in Europa nicht brauchte. Außerdem hat sich keiner der Polizisten (kein Gendern nötig) ernsthaft für meinen deutschen Personalausweis interessiert, im Gegensatz zu anderen Passagieren mit Reisepass (und Visum). An dieser Stelle fragte ich mich, ob es nicht nur an meinem Deutsch sein, sondern auch an meiner weißen Haut lag.
Privileg Nummer 1: Ein (deutscher) Personalausweis reicht für die meisten Einreisen innerhalb Europas. Auch wenn dies an der Europäischen Union liegt; andere brauchen einen Pass oder sogar ein Visum. Und auch beim Reisen außerhalb der EU ist der deutsche Pass weltweit auf Platz 3 und in Europa auf Platz 1. Wir Deutschen können 191 von 199 Ländern nur mit Pass und ohne Visum bereisen – welch ein Privileg.
Privileg Nummer 2: In meinem Umfeld ist kein Krieg. Während ich zum Vergnügen umher reiste, habe ich erlebt, wie Geflüchtete aus der Ukraine in Bus und Bahn um mich herum saßen. Das Gefühl, aufgrund meines Privilegs des freien Vergnügens, jemand anderen diesen Platz oder eine Unterkunft „weggenommen“ zu haben, machte mich zurecht traurig. Ein Kampf mit meiner eigenen Moral: Jemand anderes hätte es viel, viel nötiger als ich und dennoch tut es mir sehr gut, nach zwei Jahren Pandemie mal wieder durch die Weltgeschichte zu tingeln – gerade wenn während meines Auslandssemesters vieles sehr nah ist.
Über die Reiseprivilegien hinaus hat Deutschland einen sehr hohen und wichtigen Status in und für Europa. Dies habe ich durch die Gespräche mit den anderen Erasmus-Studierenden erfahren. Hauptsächlich liegt dies an der Wirtschaft, aber auch daran, dass wir Europas bevölkerungsreichstes Land sind (und sehr klein sind wir auch nicht). Wenn wir Österreich und den deutschsprachigen Raum der Schweiz hinzunehmen, gibt es sogar knapp 100 Millionen deutschsprachige Menschen in Europa – und das ist spürbar. In Pula sprechen die Einheimischen mehr und besser (manchmal auch nur) Deutsch.
In den osteuropäischen Ländern dominieren eindeutig deutsche Einkaufsmöglichkeiten alle Bereiche. In den Niederlanden wird Deutschland als der große Bruder bezeichnet. Spanier*innen gehen in die Großstädte Deutschlands, um dort nicht für ein Praktikum zahlen zu müssen und im besten Fall eher etwas dazuzuverdienen.
In unserer Erasmusgruppe erhalte ich als Deutsche am meisten Geld vom Erasmusprogramm. Nur die Engländer*innen bekommen ein wenig mehr, aber diese müssen sich jetzt auch um ein Visum kümmern – das kostet Zeit und Geld.
Von vielen Europäer*innen wird Deutschland als das Herz Europas gesehen – wir sind eben genau in der Mitte. All das sind Sachen, die ich entweder vorher nie realisiert habe bzw. einfach als normal und selbstverständlich angenommen habe. Mein naives Ich dachte die ganzen Jahre „Wird überall anders doch auch so sein!“
„Nein!“ – Das ist die große Erkenntnis meines Auslandssemesters, in dem ich mehr Einblick in die osteuropäischen Länder bekommen konnte. Ich lerne Deutschland und dort geboren zu sein, jetzt richtig schätzen.