Tenet – ein Film zum Erfühlen statt Verstehen

© Elena Langner

Ein Kulturarbeiter regt sich über Filme auf (Beitragsreihe)

Es ist Frühling geworden, die Vögel zwit­schern, die Natur grünt und was macht der Mensch zu so einer Zeit am besten? Natürlich ins Kino gehen. Bezie­hungs­weise ins Casino, dort gibt es in den nächsten Wochen wun­derbare Filme zu sehen.

So zum Bei­spiel Tenet. Ein Meis­terwerk von Chris­topher Nolan, der Koryphäe des „Mindfuck“-Filmgenres. Mit Memento hat er uns 1999 bewiesen, dass man einen Film auch in Back­flashes, also in der Rück­schau, erzählen kann. Dann 2010 hat er bei Inception gezeigt, wie man einen Traum in einem Traum in einem Traum träumen kann. Und 2014 ging es mit Inter­stellar in den Weltraum. Dort sollten die Protagonist*innen die Menschheit retten, indem sie einen bewohn­baren Pla­neten außerhalb der Erde finden. Dabei geraten sie in Wurm­löcher, durch die sie innerhalb weniger Minuten so viel Zeit ver­passen, dass zur selben Zeit auf der Erde gerade erst geborene Kinder älter werden, als die Protagonist*innen es sind.

Jetzt denken einige von euch sicherlich: What the fuck? Ich versteh‘ gar nichts.

Und genau das ist eigentlich die Defi­nition des „Mindfuck“-Genres.

(Kurzer Exkurs: Ja, ich weiß, dass ich hier mit dem Begriff des Genres sehr frei umgehe. Falls das jemanden stört, dann ersetzt bitte gerne „Genre“ durch Erzähl­konzept und „Mindfuck-Genre“ durch „Syn­the­thische Nar­ration“ – siehe Philipp Knauss, die 11 Erzählkonzepte)

2020 hat Chris­topher Nolan uns einen neuen Film beschert und dieser Film ist Tenet.

Man könnte schon die Geschichte der Ver­öf­fent­li­chung des Filmes für eine Ironie des Schicksals halten. Denn bei diesem Zeit­reise-Film musste die Pre­miere mehrmals auf­grund der Corona Pan­demie ver­schoben werden.

Die Handlung

Bei diesem spe­zi­ellen Genre des Films denkt man sich durch­gängig: Vor­sicht Spoiler!

Denn wenn ich euch verrate [Vor­sicht Spoiler – The Sixth Sense], dass der Kin­der­psy­chologe bei „The Sixth Sense“ tot ist [Spoiler Ende], dann werdet ihr am Ende nicht vom Hocker gehauen werden. So ging es mir zumindest leider bei dem Film.

Ich bin jetzt also mal ganz vor­sichtig beim Erzählen der Handlung:

Es geht bei Tenet um den Prot­ago­nisten (Ja, wirklich! „Prot­agonist“ steht sogar im Abspann, der Typ hat keinen Namen). Dieser ist bei der dubiosen Orga­ni­sation Tenet und erledigt geheimen Agenten-Stuff. Er erfährt, dass es inver­tierte Gegen­stände gibt – also Gegen­stände, die in der Zeit rück­wärts exis­tieren. Statt diese auf­zu­heben, muss man sie fal­len­lassen, damit man sie auf­heben kann.

Er erfährt, dass jemand auf diese Weise die Welt ver­nichten will und er es ver­hindern soll.

So weit, wie ein klas­si­scher Bond.

Wer vorher verstehen wollte, muss jetzt fühlen

Viel­leicht gibt es einige unter euch, die jetzt sagen: Also Inception habe ich ja ver­standen und Inter­stellar auch irgendwie, aber das klingt jetzt echt zu verwirrend.

Euch kann ich erlei­chern: Es gibt ein Mantra, das sich durch den Film zieht und dieses Mantra lautet: Versuch nicht, es zu ver­stehen. Sondern fühle es.

Dieses Mantra hat mich von vorne bis hinten irritiert.

Erstens: Chris­topher Nolan ist wirklich keiner, der uns gerne im Dunkeln lässt. Bei Prestige (2006) erklärt er immer wieder, wie Zau­ber­tricks funk­tio­nieren (pledge, turn, prestige) und bei Inception wird auch aus­führlich erklärt, wie die Zeit­dehnung in Träumen funk­tio­niert. Warum will er uns bei Tenet im Stich lassen mit all unseren Fragen?

Zweitens: Er erklärt sich auch immer wieder in Tenet. Es gibt in diesem Film so viel Expo­sition, wie nie zuvor. Trotzdem ist der Film an vielen Stellen sehr vage. Warum erklärt er so viel, wenn er uns doch im Dunkeln lassen will?

Falls euch das nicht stört, dann schaut euch diesen Punkt an:

Der größte Teil der Handlung findet außerhalb des Films statt.

Ich will nicht zu viel Spoilern, nur so viel: Ein großer Teil der Handlung wird erst in der Zukunft geschehen, nachdem der Film schon zu Ende ist. In diesem Sinne hat der Film eine Anti-Klimax. Zum Ende hin werden wir auf unsere Gedanken und Vor­stel­lungen zurück­ge­worfen statt eines ful­mi­nanten „Kampf der Giganten“-Endes.

Doch ich kann mich nicht erwehren, ich muss positive Aspekte auf­zählen, wieso ich den Film trotz seiner Schwächen sehr gerne wieder anschauen will:

Der Film ist eine Oppo­sition zum Hero­ismus des Zeit­geists. Der Prot­agonist hat keinen Namen, kann also auch nicht „ver­göttert“ werden. Er ist der Prot­agonist und das war’s.

Da der Film durch­gängig zeigt, wie der Prot­agonist ver­hindern will, dass die Welt zer­stört wird – worauf es scheinbar den ganzen Film lang zwangs­läufig hin­aus­laufen muss – ist er, der Prot­agonist, nicht der klas­sische Held, der sich mit dem Bösen einen großen Kampf liefert. Statt­dessen wird die offene Kon­fron­tation ver­mieden. Das Hel­dentum wird ins private ver­schoben und hier auch auf femi­nis­tische Weise.

Leute – ich kann mich nicht erwehren, ich muss euch einfach ans Herz legen, diesen Film min­destens einmal anzu­schauen. onisaC sni iaM .11 ma theg ‚olsA .nere­it­revni ssum hci tsim hO . Ok, nochmal: Also, geht am 11. Mai ins Casino! Dann schaut den Film einmal vor­wärts, zuhause nochmal rück­wärts und auf Netflix irgendwann schräg seit­wärts. Haupt­sache einmal auf dem Campus 😉